Vor knapp einem Jahr wurden wir evaluiert. Evaluation, das bedeutet eine Prüfung der Kita und der Arbeit der Erzieher, besonders in Bezug auf das Berliner Bildungsprogramm durch einen neutralen Beobachter.
Wir hatten eine Beobachterin, die mir bis heute zuweilen schlaflose Nächte und Albträume bereitet und meine ganze Arbeit von 25 Jahren in Frage stellt.
SIE war einen Tag da, beobachtete sechs Stunden lang unsere fünf Gruppen und meinte danach alles zu wissen. Ich schnitt unter ihrem kritischen Auge gar nicht so schlecht ab, aber es gab da einen Punkt, der mich erschüttert. Bis heute.
Wir gehen in der Kita zu liebevoll mit den Kindern um. Im Ernst, das wird uns vorgeworfen. Wir haben allgemein ein sehr gutes und enges Verhältnis zu Kindern UND Eltern. Die Kinder sollen neben der pädagogischen Arbeit auch einfach Spaß und Freude an ihrem Kita-Aufenthalt haben, sich wohl und sicher in ihrer Umgebung fühlen. Ich weiß nicht, ob Spaß und Freude im Berliner Bildungsprogramm vorgesehen ist. Ich halte es für sehr wichtig.
Und Spaß und Freude beinhaltet auch ein gewisses Maß an Zuneigung. Unsere Kinder kommen gerne, meist hüpfen sie fröhlich in den Gruppenraum, ich begrüße sie mit einem Lächeln oder nehme sie in oder auf den Arm. Wir gehen der Mama oder dem Papa winken, das Kind geht spielen, ich widme mich dem nächsten Ankömmling. Jeder wird grundsätzlich gleich behandelt, einige brauchen aber mehr Aufmerksamkeit, andere weniger. Ich versuche jedem Kind individuell das zu geben, was es braucht. Hier mal ein kleiner Scherz über ein lustiges T-Shirt, das Kind lacht. Hier mal über den Kopf gestreichelt, ich bekomme ein Lächeln. Manchmal springen mir die Kinder auf den Schoß, wo sie gerne einen Moment verweilen können, wir reden oder das Kind möchte sich einfach nur anlehnen, manchmal lese ich ein Buch, aber das wollen dann gleich alle hören.
Die Kinder wissen, sie können jederzeit mit all ihren Sorgen oder Wünschen zu mir kommen. Und so nenne ich die Kinder auch schon mal Schätzchen. "Dennis, Schatz, räum mal bitte deine Brotdose ein." Wenn man so liebevoll gebeten wird, macht das doch jeder gerne.
HALT!!! STOPP!!!
Schatz sagen ist verboten! Das ist äußerst unprofessionell. Das musste ich mir anhören. Dem Kind ungefragt über den Kopf zu streichen ist genauso unangebracht. Ich müsste das Kind schon vorher fragen. Muss ich es fragen, ob ich es auf den Schoß nehmen darf, wenn es weint oder darf ich da einfach selber entscheiden? Muss ich fragen, ob ich ein Kühlpad auf die Beule legen darf? Muss ich fragen, ob ich ihm den Po abwischen darf, wenn ich die Windel wechsel? Schließlich berühre ich es jedes Mal. Wo fängt man an, mit eigenen Entscheidungen, wo darf ich handeln, wo muss ich fragen?
Könnt ihr euch noch an eure Kita-Zeit erinnern? Ich war ein sehr schüchternes Mädchen, hatte vor allem und jedem Angst, konnte mich sehr schwer von der Mama lösen. Ich hätte mir damals eine Erzieherin gewünscht, die mich ungefragt in den Arm nimmt, weil ich mich gar nicht getraut hätte, zu fragen. Ich hätte mir eine Erzieherin gewünscht, die ein paar Scherze mit mir macht, damit ich wieder lachen kann. Ich hätte mir eine Erzieherin gewünscht, die mir über den Kopf streicht und mich aufmunternd anlächelt. Hatte ich nicht. Meine Erzieherin hätte bei der Evaluatorin vielleicht gut abgeschnitten, bei mir schnitt sie so schlecht ab wie nur möglich. Ich bekam nur professionellen Abstand. Nach drei Monaten nahm mich meine Mutter aus der Kita, weil ich selbst Zuhause nicht mehr sprach und nur noch in der Ecke hockte.
Für wen soll ich gut abschneiden? Für das Kind oder die Vorschriften?
Ich fragte sporadisch ein paar Eltern, was sie sich für ihr Kind von der Erzieherin wünschen. So einige sagten unter anderem "Zuneigung". Ich fragte die Kinder im Stuhlkreis, ob sie es doof finden, wenn ich sie mal auf den Schoß nehme oder ihnen über den Kopf streichle. Nein, niemand fand es doof, sie sagten, sie mögen es. Wenn es jemand nicht möchte, mache ich es nicht. Ich erklärte ihnen, dass ich nicht mehr Schatz oder Hase sagen darf, weil die Frau, die da war es für doof hält. Ein dreijähriges Mädchen fragte tatsächlich:"Ist die Frau krank?"
Also wieviel Zuneigung ist erlaubt? Müssen wir professionellen Abstand wahren, wenn es niemand möchte? Ist es wirklich unprofessionell, den Kindern auch in der Kita Liebe und Geborgenheit zu vermitteln? Die Eltern und das Elternhaus ersetzen wir nicht, ist auch gar nicht nötig. Unsere Kinder erfahren zu Hause viel Liebe, warum dürfen sie es nicht in der Kita? Haben wir nicht schon genug fanatische Idioten auf der Welt, denen eben genau das in der Kindheit sicher fehlte?
Niemand ist perfekt, ich kann keinem Kind absolut alles vermitteln, was das Berliner Bildungsprogramm vorsieht, dazu fehlt es an Zeit und einem besseren Erzieherschlüssel. Aber wir können alle unser Bestes geben und Liebe und Zuneigung, Spaß und Freude im Alltag können doch nicht verkehrt sein???!!!
Wenn unsere Kinder die Kita verlassen, um ihren Weg zur Schule anzutreten, sind sie sozial sehr kompetente, fröhliche, selbstbewusste, intelligente Kinder, die dem neuen Alltag absolut gewachsen sind. Was also machen wir so falsch???
Ich würde mich sehr über Kommentare freuen!!!